Fiktive Abrechnung: Die clevere Alternative zur Reparatur? Was Sie wirklich wissen müssen.
Ein unachtsamer Moment im Straßenverkehr, ein lauter Knall – und schon ist es passiert. Nach dem ersten Schreck und der Klärung der Schuldfrage stehen Sie als Geschädigter vor einer wichtigen Entscheidung: Wie geht es mit dem Schaden an Ihrem Fahrzeug weiter? Die meisten denken sofort an den Weg in die Werkstatt. Doch es gibt eine flexible und oft lukrative Alternative: die fiktive Abrechnung.
Viele Autofahrer haben den Begriff schon einmal gehört, doch was genau verbirgt sich dahinter? Wann lohnt sie sich und welche Fallstricke gibt es? In diesem umfassenden Ratgeber erklären wir Ihnen alles, was Sie über die Abrechnung auf Gutachtenbasis wissen müssen und warum ein unabhängiger Kfz-Sachverständiger dabei Ihr wichtigster Partner ist.
Was bedeutet „Fiktive Abrechnung“ im Kern?
Der Begriff klingt komplizierter, als er ist. Fiktive Abrechnung bedeutet, dass Sie sich von der gegnerischen Versicherung nicht die Reparatur in einer Werkstatt bezahlen lassen, sondern die Summe, die eine Reparatur kosten würde, direkt auf Ihr Konto auszahlen lassen.
Die rechtliche Grundlage dafür ist § 249 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Dieser Paragraph besagt, dass der Schädiger den Zustand wiederherstellen muss, der bestehen würde, wenn der Unfall nicht eingetreten wäre. Als Geschädigter haben Sie dabei die sogenannte Dispositionsfreiheit. Das bedeutet, Sie allein entscheiden, wie Sie diese Wiederherstellung durchführen. Ob Sie das Geld für eine Reparatur, eine Urlaubsreise oder als Anzahlung für ein neues Auto verwenden, ist allein Ihre Sache.
Die unverzichtbare Grundlage: Das unabhängige Schadengutachten
Die wichtigste Regel bei der fiktiven Abrechnung lautet: Ohne ein qualifiziertes, unabhängiges Schadengutachten geht es nicht. Ein bloßer Kostenvoranschlag einer Werkstatt reicht nicht aus und öffnet den Kürzungen der Versicherungen Tür und Tor.
Warum? Ein Kostenvoranschlag ist eine unverbindliche Schätzung. Ein Gutachten eines Sachverständigen hingegen ist ein detailliertes, beweissicherndes Dokument. Es beziffert nicht nur die reinen Reparaturkosten, sondern berücksichtigt alle schadensrelevanten Positionen, die Ihnen zustehen:
- Detaillierte Reparaturkosten: Jeder Arbeitsschritt und jedes Ersatzteil wird präzise kalkuliert.
- Wertminderung: Ihr Fahrzeug ist nun ein „Unfallwagen“. Dieser Makel mindert den Verkaufswert, selbst nach einer perfekten Reparatur. Diese Wertminderung steht Ihnen als Ausgleich zu und wird nur von einem Gutachter ermittelt.
- Wiederbeschaffungswert & Restwert: Bei größeren Schäden stellt der Gutachter fest, was ein vergleichbares Fahrzeug auf dem Markt kostet und welchen Wert Ihr beschädigtes Fahrzeug noch hat (relevant für die Totalschadenabrechnung).
- Nutzungsausfallentschädigung: Für die Dauer der (fiktiven) Reparatur steht Ihnen eine Entschädigung für den Verlust der Nutzbarkeit Ihres Fahrzeugs zu. Auch diese wird im Gutachten festgelegt.
Dieses Gutachten ist die Basis der gesamten Abrechnung. Es dient als objektiver Nachweis gegenüber der Versicherung und schützt Sie vor ungerechtfertigten Kürzungen. Als Geschädigter haben Sie das Recht, den Sachverständigen Ihres Vertrauens frei zu wählen – die Kosten dafür muss die gegnerische Versicherung tragen (ausgenommen bei Bagatellschäden).
Netto oder Brutto? Der entscheidende Punkt bei der Auszahlung
Hier liegt einer der häufigsten Stolpersteine: Bei der fiktiven Abrechnung zahlt die Versicherung die im Gutachten ausgewiesenen Reparaturkosten grundsätzlich nur netto, also ohne die 19 % Mehrwertsteuer.
Die Begründung des Gesetzgebers ist einfach: Mehrwertsteuer soll nur dann erstattet werden, wenn sie auch tatsächlich angefallen ist. Da Sie bei der fiktiven Abrechnung keine Rechnung einer Werkstatt vorlegen, auf der die Steuer ausgewiesen ist, fällt sie quasi nicht an.
Aber: Sollten Sie sich später doch entscheiden, das Fahrzeug (oder Teile davon) in einer Fachwerkstatt reparieren zu lassen und eine Rechnung mit ausgewiesener Mehrwertsteuer erhalten, können Sie diese bei der Versicherung nachreichen und erhalten die Steuer anteilig erstattet.
Die Vorteile der fiktiven Abrechnung im Überblick
- Maximale Flexibilität: Sie erhalten das Geld und entscheiden frei darüber.
- Günstigere Reparatur möglich: Sie können eine freie Werkstatt wählen, die günstiger arbeitet als die im Gutachten kalkulierte Markenwerkstatt, und die Differenz als Gewinn behalten.
- Reparatur in Eigenregie: Wenn Sie technisch versiert sind, können Sie den Schaden selbst beheben und erhalten trotzdem die Kosten für eine professionelle Reparatur.
- Keine Reparatur: Ist der Schaden nur optischer Natur und die Verkehrssicherheit nicht beeinträchtigt, können Sie das Fahrzeug einfach weiterfahren und die Entschädigung als Ausgleich für den Minderwert nutzen.
- Zeitersparnis: Sie müssen nicht auf einen Werkstatttermin warten oder Ihr Fahrzeug für Tage abgeben.
Achtung, Falle! Wo Versicherungen gerne kürzen – und wie Sie sich wehren
Versicherungen sind Wirtschaftsunternehmen und versuchen naturgemäß, ihre Ausgaben zu minimieren. Bei der fiktiven Abrechnung sind Kürzungen an der Tagesordnung. Hier die häufigsten Tricks:
Stundenverrechnungssätze: Die Versicherung behauptet, Sie hätten den Schaden in einer günstigeren, freien Werkstatt reparieren lassen können und kürzt die im Gutachten angesetzten (höheren) Stundensätze einer Markenwerkstatt. Ihr Recht: Grundsätzlich haben Sie Anspruch auf die Abrechnung der Kosten einer markengebundenen Fachwerkstatt, insbesondere wenn Ihr Fahrzeug jünger als 3 Jahre ist oder Sie es bisher immer dort haben warten lassen (scheckheftgepflegt). Ein guter Gutachter begründet dies entsprechend.
UPE-Aufschläge und Verbringungskosten: UPE-Aufschläge sind Preisaufschläge auf Ersatzteile, die Werkstätten zur Deckung ihrer Lagerkosten erheben. Verbringungskosten entstehen, wenn ein Fahrzeug zum Lackierer transportiert werden muss. Versicherungen streichen diese Posten gerne mit dem Argument, sie seien bei einer fiktiven Abrechnung nicht angefallen. Die Rechtsprechung ist hier oft auf der Seite der Geschädigten, und ein Sachverständiger wird diese Posten korrekt im Gutachten ausweisen.
Wann ist die fiktive Abrechnung nicht die beste Wahl?
Bei Leasing- oder finanzierten Fahrzeugen ist Vorsicht geboten. Hier sind Sie nicht der alleinige Eigentümer. Die Leasing- oder Finanzierungsverträge sehen in der Regel eine Pflicht zur fachgerechten Reparatur in einer Vertragswerkstatt vor. Eine fiktive Abrechnung ist hier oft vertraglich ausgeschlossen. Prüfen Sie unbedingt Ihren Vertrag!
Fazit: Ihr Recht, Ihre Entscheidung
Die fiktive Abrechnung ist ein hervorragendes Instrument, um als Unfallgeschädigter die Kontrolle über die Schadensregulierung zu behalten und das für Sie beste Ergebnis zu erzielen. Sie bietet Flexibilität und kann finanziell sehr attraktiv sein.
Der Erfolg steht und fällt jedoch mit der Qualität des Schadengutachtens. Versuchen Sie niemals, einen Schaden ohne professionelle Unterstützung fiktiv abzurechnen. Ein unabhängiger Kfz-Sachverständiger ist nicht nur der Ersteller Ihrer Abrechnungsgrundlage, sondern Ihr treuer Partner, der Ihre Ansprüche gegenüber der Versicherung verteidigt und dafür sorgt, dass Sie jeden Cent erhalten, der Ihnen zusteht.
(Wichtiger Hinweis: Dieser Artikel dient der allgemeinen Information und stellt keine Rechtsberatung dar. Im konkreten Schadensfall sollten Sie sich immer von einem qualifizierten Rechtsanwalt beraten lassen, der Ihre individuelle Situation prüfen kann.)
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